Es gibt Momente, in denen Freude und Angst gleichzeitig hochkommen. Wir sehen das Glück anderer, ihre Freiheit, ihre Verbundenheit – und plötzlich spüren wir eine innere Unruhe, einen Stich der Unsicherheit. „Wenn der andere Mensch es ohne mich kann … bin ich dann genug? Bin ich wertvoll?“
Diese Gedanken sind alt, tief in uns verwoben, wie ein leiser Schatten, der sich in die schönsten Momente schleicht. Sie erzählen Geschichten von Unzulänglichkeit, von „nicht genug sein“ – und sie tun es immer wieder, weil unser Nervensystem sie kennt, weil sie uns vertraut sind.
Und doch ist da mehr: Unter der Angst liegt ein Raum von Wärme und Mitgefühl. Ein Raum, der uns sagt: Du bist nicht allein. Viele von uns tragen diese alten Stimmen, diese leisen Zweifel, die uns manchmal überwältigen. Sie sind keine Schande. Sie sind Hinweise, dass wir berührt, lebendig und verbunden sind – und dass wir uns wieder erinnern dürfen, wer wir wirklich sind.
Die Wahrheit ist, dass unser Wert nicht davon abhängt, ob andere uns brauchen, ob sie uns sehen oder ob sie sich frei und leicht fühlen. Wir dürfen lieben, ohne dass unsere Sicherheit davon abhängt. Wir dürfen fühlen, ohne dass die Angst uns dominiert.
Die Einladung: beide Energien halten
Die Einladung ist, beide Energien zu halten: die Freude über das Leben anderer, ihre Freiheit, ihre Leichtigkeit – und gleichzeitig die eigene Angst. Nicht wegschieben, nicht verdrängen, nicht beurteilen. Einfach fühlen, halten, spüren.
Mini-Übung zum Halten der eigenen Mitte:
1. Setze dich bequem hin, lege eine Hand auf dein Herz, die andere auf deinen Bauch.
2. Atme langsam ein und aus. Spüre in deinen Körper hinein – die Angst, die Unruhe, aber auch die Freude, die Wärme in deinem Herzen.
3. Sage innerlich: „Ich sehe dich, Angst. Ich sehe dich, Freude. Ich halte euch beide.“
4. Mit jedem Ausatmen spürst du, wie dein Körper leichter wird, die Spannung weicher.
5. Mit jedem Einatmen nimmst du neue Stabilität auf – du bist gehalten, du bist genug, du bist verbunden.
Praktische Alltags-Variante:
Wenn alte Gedanken oder Unsicherheiten dich mitten im Alltag treffen – beim Nachrichtenlesen, bei einem Telefonat oder wenn jemand Freude erlebt, die dich triggert – atme bewusst ein und aus. Lege, wenn möglich, eine Hand aufs Herz oder den Bauch. Spüre den Boden unter deinen Füßen, deinen Atem, deinen Herzschlag.
Sage innerlich: „Ich halte mich selbst. Ich bin genug. Ich darf fühlen, was da ist.“
Du musst die Angst nicht vertreiben, sie nicht bekämpfen. Du darfst sie sehen, halten und gleichzeitig weiter in deinem eigenen Raum stehen, im Bewusstsein, dass du sicher bist und getragen wirst.
Manchmal fühlt sich das Loslassen paradox an: Es bedeutet nicht, die Angst zu vertreiben. Es bedeutet, ihr Raum zu geben, sie willkommen zu heißen, und gleichzeitig die eigene Mitte zu spüren. Die Freude darf sein. Die Angst darf sein. Wir dürfen beides gleichzeitig halten. Und genau darin liegt Freiheit.
Wenn wir uns erlauben, uns selbst zu spüren – unser Herz, unseren Atem, unseren Körper – merken wir, dass wir nicht zerbrechen. Wir merken, dass wir ein Gefäß tragen, das alles hält: die Angst, die Sehnsucht, die Freude, die Liebe. Wir merken, dass wir in uns selbst sicher sein können, auch wenn alte Muster noch flüstern.
Jede Begegnung mit diesen alten Gedanken ist eine Einladung: zu sehen, was in uns wohnt, es zu spüren, es zu halten, uns selbst zu halten – und dabei zu erkennen, dass wir nicht allein sind. Viele tragen dieselben leisen Stimmen, dieselben Zweifel, dieselben tiefen Sehnsüchte nach Anerkennung und Verbindung.
Du bist Teil dieses Menschseins
Du bist gehalten
Du bist wertvoll
Du bist nicht allein
Und so dürfen wir Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, spüren, dass wir alles in uns halten können: unsere Angst, unsere Freude, unsere Sehnsucht. Wir dürfen uns selbst wiederfinden, in unserer Tiefe, in unserer Weite, in unserem Mut. Wir dürfen uns erlauben, frei zu sein – voller Mitgefühl für uns selbst, mit offenen Armen für das Leben, das uns trägt.